Renale Glukosurie E74.8

Autor: Dr. med. S. Leah Schröder-Bergmann

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Zuletzt aktualisiert am: 21.11.2021

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Synonym(e)

Diabetes innocens; Diabetes innocuus; Diabetes mellitus renalis; Diabetes renalis; Familiäre renale Glukosurie (FRG); Hereditäre familiäre Glukosurie; Nierendiabetes; Nierenharnruhr; normoglykämische Glukosurie

Erstbeschreiber

Nachdem man in Studien nachweisen konnte, dass beim Menschen die i. v. Injektion des pflanzlichen Glukosids Phlorizin zur Ausscheidung der gesamten gefilterten Glukosemenge führt, wurden die sog. Gliflozine (SGLT2- Inhibitoren) für therapeutische Zwecke entwickelt (Ghezzi 2018). In Deutschland kam als erstes Medikament Dapagliflozin im Jahre 2012 auf den Markt (Schwabe 2017)

Definition

Unter einer renalen Glukosurie versteht man eine selektive Störung der renalen Glukose- Reabsorption (Muntau 2018), bei der es – trotz normaler Blutglukosespiegeln - zu einer vermehrten Urinausscheidung von Glukose kommt und andere tubuläre Störungen nicht nachweisbar sind (Schärer 2002).

Einteilung

Die familiäre renale Glukosurie (FRG) zählt zu den Tubulopathien (Muntau 2018).

Man differenziert zwischen 3 verschiedenen Formen:

  • Typ A: Dieser Typ entsteht durch einen Defekt des Glukosetransporters SGLT2, der in der 1. Hälfte des proximalen Tubulus für die Resorption von Glukose zuständig ist. Hierbei sind sowohl das tubuläre Resorptionsmaximum für Glukose als auch die minimale Nierenschwelle vermindert (Muntau 2018). Letztere liegt normalerweise bei ca. 180 mg / dl Glukose im Blut (Liman 2021).
  • Typ B: Bei Typ B findet sich ein Defekt des Glukosetransporters SGLT1 am Ende des proximalen Tubulus. Die Nierenschwelle für Glukose ist vermindert, das tubuläre Resorptionsmaximum aber erst bei hohen Glukosekonzentrationen eingeschränkt. Zusätzlich besteht eine Malabsorption für Glukose und Galaktose (Muntau 2018).
  • Typ O: Beim Typ O fehlt die renale Resorption für Glukose nahezu vollständig (Lentze 2008).

Vorkommen/Epidemiologie

Sehr selten vorkommend (Herold 2020). Nähere Zahlenangaben finden sich in einer Studie von Fishman (2019). Hier wiesen von 2.506.830 Wehrpflichtigen 0,044%  (n=1.108) eine renale Glukosurie auf.

In einer japanischen Studie aus dem Jahre 2018 wurde bei 3.309.631 Schulkindern bei 0,1 % eine Glukosurie nachgewiesen, bei denen 70,3 % auf eine renale Glukosurie zurückzuführen waren. Das Geschlechterverhältnis (Jungen : Mädchen) lag bei 50,3 % : 49,7 % (Urakami 2018).

Ätiopathogenese

Die FRG wird i. d. R. kodominant mit unvollständiger Penetranz vererbt (Ottosson- Laakso 2016). Ursächlich liegt dem Krankheitsbild eine Mutation des SLC5A2- Gens, das zu einem Defekt der Natrium- Glukose- Cotransporter führt (Herold 2020).

Der Erbgang ist inkomplett autosomal- rezessiv (Lentze 2008 / Muntau 2018).

Pathophysiologie

SGLT2 ist der wichtigste Glukose- Co- Transporter, der für 90 % der renalen Rückresorption von Glukose zuständig ist, der weiter distal gelegene Glukose- Co- Transporter SGLT1 lediglich für 10 % (Ottosson- Laakso 2016).

Klinisches Bild

Die renale Glukosurie verläuft asymptomatisch und wird meistens zufällig im Rahmen einer Laboruntersuchung entdeckt werden (Rebelo 2012).

Diagnostik

Die Diagnostik erfolgt neben den u. g. Laboruntersuchungen durch:

DNA- Analyse: Mutationen des SLC5A2- Gens (Herold 2020)

Bestimmung des renalen Glukose- Resorptionsmaximums: Hierbei zeigt sich eine verminderte Resorption von Glukose (Muntau 2018).

Bildgebung

Sonographie

Die Nieren stellen sich unauffällig dar (Rebelo 2012).

Labor

Urinuntersuchung:

  • Glukosurie (Herold 2020)
  • pH- Wert unauffällig (Rebelo 2012)

 

Blutuntersuchung:

  • Normoglykämie (Herold 2020)
  • HbA1C- Wert im Normbereich
  • Glukosetoleranztest unauffällig (Rebelo 2012)

Differentialdiagnose

Glukosurie zusammen mit einer Hyperglykämie:

Glukosurie bei fehlender Hyperglykämie:

  • Nierentrauma
  • Infektion der Niere
  • Zystinose und andere Stoffwechselstörungen
  • Fanconi- Bickel- Syndrom (zusätzlich Hepatomegalie und Störungen der Leberfunktion [Schatz 2006])
  • Fanconi- de- Toni- Debré- Syndrom (zusätzlich Transportstörungen für Aminosäuren, Bikarbonat und Phosphat [Schatz 2006])
  • Fanconi- Syndrom (überwiegend genetisch bedingt)
  • Störungen der Nierentubuli im Sinne eines Fanconi- Syndroms durch Medikamente (Rebelo 2012) wie z. B.:
    • Aminoglykosid- Antibiotika
    • Cisplatin
    • Deferasirox
    • Natrium- Valproat
    • Tenofovir (Hall 2013)
  • Amyloidose (durch peritubuläre Ablagerungen bedingter Transportdefekt)
  • Kollagenosen
  • Vaskulitiden (Schatz 2006)

Therapie

Eine Therapie ist nicht erforderlich (Muntau 2018).

Hinweis(e)

Die FRG gilt als gutartige Erkrankung, obwohl der Glukoseverlust im Urin bei bis zu 150 g / 1,73 m² liegen kann (Ottosson- Laakso 2016).

In einer finnischen Studie Ottosson- Laakso konnte 2016 nachgewiesen werden, dass die renale Glukosurie keinen Einfluss auf den BMI und auf eine etwaige Glukosetoleranz hat (Lentze 2008).

Eine israelische Studie aus dem Jahre 2019 zeigte jedoch, dass die renale Glukosurie häufiger mit einem geringeren Körpergewicht verbunden ist und seltener mit erhöhten systolischen Blutdruckwerten (Fishman 2019).

Bei Geschwisterkindern reicht ein Urinstreifentest zum Nachweis einer Glukosurie, da eine sicher gestellte Diagnose ausreicht (Lentze 2008).

Literatur
Für Zugriff auf PubMed Studien mit nur einem Klick empfehlen wir Kopernio Kopernio

  1. Danne T et al (2015) Diabetes bei Kindern und Jugendlichen: Grundlagen – Klinik – Therapie. Springer Verlag 164
  2. Fishman B et al. (2019) Renal glucosuria is associated with lower body weight and lower rates of elevated systolic blood pressure: results of a nationwide cross-sectional study of 2.5 million adolescents. Cardiovasc Diabetol 18 (1) 124  doi: 10.1186/s12933-019-0929-7.
  3. Ghezzi C et al. (2018) Physiology of renal glucose handling via SGLT1, SGLT2 and GLUT2. Diabetologia 61 (10) 2087 – 2097 doi: 10.1007/s00125-018-4656-5.
  4. Gong S et al. (2017) Clinical and Genetic Features of Patients With Type 2 Diabetes and Renal Glycosuria. The Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism, Volume 102, Issue 5, 1548 – 1556.https://doi.org/10.1210/jc.2016-2332
  5. Hall A M et al. (2013) Drug-induced renal Fanconi syndrome. QJM: An International Journal of Medicine, Volume 107, Issue 4, 261 – 269, https://doi.org/10.1093/qjmed/hct258
  6. Herold G et al. (2020) Innere Medizin. Herold Verlag 629
  7. Lentze M J et al. (2008) Pädiatrie: Grundlagen und Praxis. Springer Verlag Heidelberg 1374
  8. Liman M N P et al. (2021) Physiology, Glucosuria. NCBI. StatPearls Publishing LLC. Bookshelf ID: NBK557441. PMID: 32491373
  9. Muntau A C et al. (2018) Pädiatrie hoch 2. Elsevier- Verlag München 475 - 476
  10. Ottosson- Laakso E et al. (2016) Influence of Familial Renal Glycosuria Due to Mutations in the SLC5A2 Gene on Changes in Glucose Tolerance over Time. Plos. One Pubmed ID: 26735923 . DOI:10.1371/journal.pone.0146114
  11. Rebelo J C et al. (2012) Renal glycosuria: report of two cases. Relatos de Caso - Braz. J. Nephrol. 34 (3) 291 – 292 https://doi.org/10.5935/0101-2800.20120013
  12. Schärer K et al. (2002) Pädiatrische Nephrologie. Springer Verlag Berlin / Heidelberg 121
  13. Schatz H et al. (2006) Diabetologie Kompakt: Grundlagen und Praxis. Springer Verlag 214
  14. Schwabe U et al. (2015) Arzneiverordnungsreport 2015: Aktuelle Daten, Kosten, Trends und Kommentare. Springer Verlag 90
  15. Urakami T et al. (2018) Renal glucosuria in schoolchildren: Clinical characteristics. Pediatr Int. 60 (1) 35 - 40. doi: 10.1111/ped.13456.

Weiterführende Artikel (1)

SLC5A2-Gen;

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