Immuntoleranz

Autor: Prof. Dr. med. Peter Altmeyer

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Zuletzt aktualisiert am: 31.03.2021

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Definition

Als Immuntoleranz (von latein. tolerantia = Erduldung) wird eine erworbene Eigenschaft des Immunsystems bezeichnet, die ausschließlich das adaptive (spezifische) Immunsystem betrifft und die zu einer Toleranz gegenüber körpereigene Epitope führt wodurch autoaggressive Mechanismen verhindert werden. Immuntoleranz kann aber unter gewissen Umständen auch gegenüber Fremdepitopen erzeugt werden. Es ist anzunehmen dass eine Immuntoleranz eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung und Ausbreitung von Tumorzellen spielt.

Hinweis: Mit Allergie, Autoimmunologie (s.a. Autoimmunerkrankung) oder anderen spezifischen Fehlreaktionen der erworbenen Immunität wird der „Verlust der Toleranz“ des Immunsystems gegenüber harmlosen oder schädigenden Fremdantigenen bzw. gegenüber körpereigenen Epitopen (Autoantigenen) des Organismus bezeichnet.

Allgemeine Information

Zentrale Toleranz

  • Die zentrale Toleranz findet während der Ontogenese in den zentralen lymphatischen Organen statt. Sie persistiert lebenslang. Hierbei bilden T- und B-Zellen unendlich viele Rezeptormoleküle unabhängig von einem Antigenkontakt und dies in ­einem komplexen zufallsgesteuerten Prozess.

Periphere Toleranz 

  • Die periphere Toleranz betrifft die reifen, ausdifferenzierten Lymphozyten, welche die zentralen lymphatischen Organe verlassen haben. Hierbei entwickelt sich eine klonale Anergie gegenüber dem Antigen.

T-Zellen: Während des Entwicklungsprozesses der T-Zellen im Thymus wird eine Vielzahl von zytotoxischen T-Zellen mit unterschiedlichsten Spezifitäten erzeugt. Diese frühen T-Zellen durchlaufen einen komplexen Selektionsprozess der für viele Lymphozyten in der Apoptose endet. In den unreifen T-Zellen entstehen zunächst Prä-T-Zell-Rezeptoren, die sich jeweils zu einem Komplex mit CD3-Oberflächenmolekülen zusammenlagern. Zusätzlich exprimieren die T-Zellen sowohl das CD4- als auch das CD8-Antigen. Diese doppelt-positiven Zellen überleben nur 3-4 Tage. Etwa 95 % dieser unreifen T-Zellen werden in den programmierten Zelltod (Apoptose) getrieben. 5% der Zellen stehen als naive zytotoxische T-Zellen dem Organismus zur Verfügung. Alle T-Zellen, die an körperfremde, nicht jedoch an körpereigene Epitope binden, die von dendritischen Zellen oder Thymus-Epithelzellen exprimiert werden, werden in die Apoptose getrieben (negative Selektion). Auf diese Weise werden selbstreaktive T-Zellen eliminiert, sodass schließlich ein reifes ­T-Zell-Repertoire resultiert, das sowohl auf das MHC-Muster des individuellen Menschen als auch auf Selbsttoleranz abgestimmt ist.

Bei der peripheren Toleranz, die die ausdifferenzierten T-Lymphozyten betrifft, werden aus naiven CD8+ zytotoxischen T-Zellen, aktivierte und somit voll funktionstüchtige zytotoxische T-Zellen generiert. Hierbei ist eine Antigen-spezifische Interaktion der naiven zytotoxischen T-Zellen mit professionellen Antigen-präsentierenden Zellen (meist reife dendritische Zellen) notwendig. Zuvor müssen die Antigene aufbereitet werden und auf spezifischen körpereigenen Rezeptoren, den vom Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC) kodierten Klasse-I- und Klasse-II-Proteinkomplexen, auf der Zelloberfläche präsentiert werden. So aufbereitet können freie Antigene von Antigen- präsentierenden Zellen (APC) aktiv präsentiert werden (sog. MHC-Restriktion) und von den zytotoxischen T-Lymphozyten erkannt werden.

Auch die Erkennung infizierter oder maligner Zellen mittels des hochspezifischen T-Zell-Rezeptors erfolgt über die Bindungsstellen des MHC-I-Bindungskomplexes. Nach ihrer immunologischen Prägung, zirkulieren zytotoxische T-Zellen durch Blut, Lymphknoten, Haut und andere Organe. Gesunde, nicht infizierte (nicht antigenische) Körperzellen präsentieren eine variable Mischung verschiedenster, zellspezifischer Epitope (Selbst-Peptide). Durch dieses „Epitopmuster“ weisen sie sich vor den Zellen des Immunsystems als „gesund“ aus.

Mithilfe des Transkriptionsfaktors AIRE (Autoimmun-Regulator) wird erreicht, dass die antigenpräsentierenden Zellen auch Gene exprimieren, die eigentlich nur in ganz anderen Organen vorkommen. Dieser Effekt wird auch als promiskuitive Genexpression bezeichnet und dient dazu, die T-Zellen tolerant gegenüber Organ­spezifisch exprimierten Antigenen des Körpers zu machen (Anderson M et al. 2011).

B-Zellen: Erkennen B-Zellen im Knochenmark mit hoher Affinität ein (polyvalentes) Autoantigen, erhalten sie ein Signal, das Apoptose induziert (klonale Deletion). Diesem Signal können B-Zellen manchmal durch die Synthese einer neuen leichten Rezeptorkette mit ­einer veränderten Bindespezifität entgehen (Rezeptor-Editing). Insgesamt wird angenommen, dass etwa 85% der neu gebildeten B-Zellen im Knochenmark ausgemustert werden und nur 15% in die Peripherie auswandern. In der Milz findet anschließend der nächste Selektions- und Reifungsprozess statt, sodass die Zahl der potenziell autoreaktiven B-Zellen nochmals reduziert wird. Letztlich bilden etwa 5 bis 10% der ursprünglich generierten B-Zellen einen Pool reifer naiver B-Lymphozyten. Sie können durch ein passendes Antigen unter kostimulatorischer Einwirkung von Th-Zellen stimuliert werden und differenzieren dann zu Antikörper-produzierenden Plasmazellen sowie zu B-Gedächtniszellen.

Autoreaktive Antikörper: Das Vorkommen autoreaktiver Antikörper ist auch bei Gesunden keine Seltenheit. B-Zellen, die zufällig autoreaktive Proteine synthetisieren werden vom Immunsystem grundsätzlich als fremd erkannt und eliminiert. Sie werden nur dann toleriert, wenn die passenden T-Helferzellen fehlen, die beim Vorgang der Autoimmunität (Autoaggression) die Autoantikörper-produzierenden B-Zellen zur Proliferation und zur Differenzierung aktivieren würden. In diesem Fall kann eine B-Zell-Toleranz auch als Konsequenz einer T-Zell-Toleranz entstehen.

Treg-Zellen als Kontrolleure: Ebenso wie bei den B-Zellen gelangen auch vereinzelt selbstreaktive T-Zellen in die Peripherie. In diesem Falle wirken nun periphere Toleranzmechanismen, die zu klonaler Deletion, Anergie oder immunologischer Ignoranz führen. Zudem übernehmen regulatorische T-Zellen (Treg-Zellen) die Kontrolle über diese selbstreaktiven Zellen. Treg entstehen immer dann, wenn T-Zellen starke Signale empfangen, die jedoch gerade noch keine ­Apoptose im Sinne einer negativen ­Selektion induzieren.

 

 

Toleranzverlust

Verschiedene Mechanismen und Prozesse sind daran beteiligt, dass B- und vor allem T-Zellen die Toleranz gegenüber Autoantigenen verlieren. Dabei spielen genetische und immunologische Faktoren, aber auch Umweltfaktoren eine Rolle. Es deutet immer mehr darauf hin, dass viele autoreaktive T-Zellen ungewöhnliche Bindungseigenschaften für ihre MHC-Peptidliganden haben. Tatsächlich können autoreaktive T-Zellen mit ungewöhnlichen TCR-Topologien einer thymischen Deletion entkommen, wenn die Bindung an den MHC/Peptid-Komplex zu ungenau ist, um die Apoptose auszulösen. Diese Theorie wird durch Strukturanalysen von T-Zellrezeptoren gestützt, die von Patienten mit Multipler Sklerose und Typ-1-Diabetes isoliert wurden.

Toleranzverlust bei T-Zellen kann aber auch infolge einer Infektion auftreten. Verschiedene Mechanismen wurden beschrieben so die molekulare Mimikry. Offenbar sind bestimmte Viren oder Bakterien dafür verantwortlich, dass der Mensch nach einer Infektion eine Autoimmunerkrankung entwickeln kann. So findet man erstaunliche Homologien zwischen verschiedenen kurzen Proteinsequenzen von Bakterien oder Viren bzw. körpereigenen Zellen. So beim basisches Myelinprotein, das ähnliche Epitope wie die Polymerase des Hepatitis-B-Virus besitzt. Bei einer Infektion werden also Virus-spezifische T-Zellen aktiviert, die genau dieses ­homologe Epitop erkennen und sich anschließend aber gegen die Myelinscheiden der Nervenzellen richten.

 

Hyposensibilisierung zur Einleitung einer Toleranzinduktion

Vor allem Allergien, aber auch manche Autoimmunerkrankungen können über eine spezifische Toleranzinduktion therapiert werden (z.B. mittels Desensibilisierung: wiederholte Expositionen mit kleinsten Dosen des Allergens induziert Symptomfreiheit – oder Besserung). Auch lässt sich bei Kindern mit einer Disposition für eine Erdnussallergie durch einen frühen und kontinuierlichen Kontakt mit dem Allergen die (Erdnuss-)Allergie vermeiden. (LEAP-Studie; Learning Early About Peanut Allergy).

Ein recht erfolgreicher Ansatz stellt die Immuntoleranzinduktion (ITI) bei Hämophilie-Patienten dar, die Antikörper gegen den zur Substitution eingesetzten Faktor VIII entwickeln. Die Patienten erhalten bis zu 300 I.E. Faktor VIII pro kg Körpergewicht/Tag i.v., um langfristig die neutralisierenden Antikörper zu beseitigen.

 

Literatur
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  1. Anderson M et al. (2011) "Aire and T cell development". Curr. Opin. Immunol 23: 198–206.
  2. Blanco P et al. (2005) Cytotoxic T lymphocytes and autoimmunity. Curr Opin Rheumatol 17:731-734. Review. 
  3. Gardner J et al. (2008) Projection of an immunological self shadow within the thymus by the aire protein. Science. 298: 1395–1401
  4. Hoyer S et al. (2014) Concurrent interaction of DCs with CD4 and CD8 T cells improves secondary CTL expansion: It takes three to tango. European J Immunol 44: 3543
  5. Liston A et al.(2003) Aire regulates negative selection of organ-specific T cells. Nat Immunol 4: 350–354.
  6. Nashan D et al. (2018) Primär kutane Lymphome-eine Fallserie von 163 Patienten. Hautarzt 69: 1014-1020
  7. Perniola R (2018) Twenty Years of AIRE. Front Immunol 9:98.
  8. Sharma RK et al. (2015) Regulation of cytotoxic T-Lymphocyte trafficking to tumors by chemoattractants: implications for immunotherapy. Expert Rev Vaccines 14:537-549.

Verweisende Artikel (1)

Thymus-Epithelzelle;
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