Alkoholkrankheit F10.2

Autor: Prof. Dr. med. Peter Altmeyer

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Zuletzt aktualisiert am: 17.09.2018

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Synonym(e)

Alcohol Dependance; Alkoholismus; Alkoholsucht

Definition

Primäre, chronische Krankheit mit genetischen, psychosozialen und umgebungsbedingten Faktoren, die die Entwicklung und Ausprägungsformen der Erkrankung beeinflussen. Die Krankheit verläuft häufig progressiv und tödlich. Sie ist gekennzeichnet durch körperliche, psychische und soziale Probleme und führt zu einer Reihe von Folgeschäden. Sie ist gekennzeichnet durch Kontrollverlust für das Trinken, für die geistige Konzentration auf die Droge Alkohol, für den fortgesetzten Alkoholkonsum trotz bekannter nachteiliger Folgen.  Die meisten Alkoholkranken suchen Hilfe bei einem Arzt, ohne ihren Alkoholkonsum als das wesentliche Problem anzusprechen, nicht wenige sogar in Unkenntnis der Zusammenhänge zwischen ihrem Leiden und ihren Trinkgewohnheiten. Hieraus resultieren einerseits diagnostische Probleme in der ätiologischen Zuordnung der Symptome als auch Schwierigkeiten in den therapeutischen Konsequenzen.

Für die Diagnose nach F10.2 (ICD-10) müssen 3/>3 der folgenden 6 Kriterien innerhalb von 12 Monaten erfüllt sein:

  • Carving (starkes Verlangen nach Alkohol)
  • Kontrollverlust bzgl. Beginn, Ende oder Menge des Alkoholkonsums
  • Körperliches Entzugssyndrom
  • Toleranzentwicklung gegenüber der Alkoholwirkung (Dosissteigerung)
  • Vernachlässigung anderer Interessen
  • Anhaltender Alkholkonsum trotz eindeutiger schädlicher Folgen (körperlich, seelisch, sozial)

Einteilung

Typologie der Alkholkranken nach Jellinek

  • Alpha-Trinker: Konflikt- und Erleichterungstrinker
  • Beta-Trinker: Gelegenheitstrinker
  • Gamma-Trinker (Alkoholkranker, der die Kontrolle über sein Trinkverhalten verloren hat)
  • Delta-Trinker (Gewohnheitstrinker mit psychischer und körperlicher Abhängigkeit aber ohne Kontrollverlust – Spiegeltrinker -).
  • Epsilon-Trinker (Periodischer Trinker mit Kontrollverlust = Quartalssäufer) 

Vorkommen/Epidemiologie

Etwa 1,3 Millionen Menschen in Deutschland sind alkoholabhängig. In Frankreich werden 50% aller Krankenhausbetten zur Versorgung aIkoholkranker Patienten gebraucht. 40% der Gesamtausgaben für Gesundheit müssen hierfür aufgewendet werden. Englische Daten belegen daß 30% der Patienten allgemeiner internistischer Stationen an Krankheiten leiden, die durch Alkohol verursacht, wesentlich mitverursacht bzw. verschlimmert worden sind. In Russland sterben bis zu 40% der Männer durch Alkholmissbrauch.

Für die Diagnose einer Alkoholabhängigkeit gibt es bestimmte Kriterien. Erfüllt ein Betroffener eine gewisse Anzahl dieser Kriterien, gilt er als abhängig. Die Übergänge von "noch normalem" zu risikoreichem oder schädlichem Konsum und Abhängigkeit sind fließend.

Ätiopathogenese

Die Alkoholerkrankung ist eine komplexe Erkrankung bei der ätiopathogenetisch kulturelle, soziologische, pharmakologische, psychologische und genetische (Kinder von Alkoholikern haben ein 4fach erhöhtes Risiko eine Alkoholerkrankung zu entwickeln) Aspekte eine wesentliche Rolle spielen.

Ätiopathogenese

Der größte Teil des getrunkenen Alkohols wird über den Magen-Darm-Trakt resorbiert. Hierbei hängt die Schnelligkeit der Resorption von einer zuvor getätigten Nahrungsaufnahme ab. Nüchtern erfolgt sie sehr rasch; reichliche und fettreiche Nahrung verzögert die Resorption deutlich. Der höchste Alkoholspiegel im Blut lässt sich im Durchschnitt etwa 45 bis 90 Minuten nach dem Konsum eines alkoholischen Getränkes messen. Bei gleicher Alkoholmenge ist die Blutalkoholkonzentration bei Frauen deutlich höher als bei Männern. Hierfür ursächlich ist die größere Muskelmasse der Männer in der sich der zugeführte Alkohol verteilt.

Abgebaut wird Alkohol zum größten Teile über die Alkoholdehydrogenase (Zinkhaltige NAD-Oxireduktase, die in Gegenwart von NAD primäre und sekundäre Alkohole reversibel zu den entsprechenden Aldehyden oder Ketonen katalysiert). Weiterhin wird bei chronischem Alkoholkonsum das sog. MEOS induziert (Mikrosomales Ethanol-oxidierendes System), ein „Zusatz-Enzym“ das unabhängig von der Alkoholdehydrogenase Alkohol abbaut. MEOS ist für die Toleranzentwicklung und den Gewöhnungseffekt für Alkohol verantwortlich (Lieber CS 1999). Die Aktivität des MEOS ist mit einer Aktivierung des Cytochrom P450 2E1 verbunden (Asai H et al. 1996). Durch den Toleranzeffekt reagiert der Körper mit der Zeit weniger empfindlich auf Alkohol.

Klinisches Bild

Ein akuter Alkoholkonsum hat eine unmittelbare toxische Wirkung auf den Körper, eine Intoxikation die bereits kurz nach dem Konsum auftritt und von der Dosierung abhängig ist. Dabei ist die individuelle Alkoholverträglichkeit je nach Toleranzlage unterschiedlich. Eine Blutalkoholkonzentration >5 Promille ist jedoch tödlich.

Die akute Alkoholintoxikation (Rausch) ist gekennzeichnet durch akute neuropsychiatrische Reaktionen wie:

  • Enthemmung (Abbau von Schüchternheit oder auch erhöhte Aggressivität), Rededrang, gehobene Stimmung, Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen, teilweise aggressives, fremd- oder eigengefährdendes Verhalten, Angst oder depressive Stimmung, Störung der Bewusstseinslage mit Desorientiertheit, Somnolenz bis hin zum Koma. Gefahr der Aspiration, Bolustod, Atemdepression, Unterkühlung. 

Ein über längere Zeit chronisch überhöhter (pathologischer)Alkoholkonsum ruft chronische Organschäden hervor, die individuell unterschiedlich geprägt, nach Monaten oder Jahren hervortreten. Hierzu gehören:

  • Neuropsychiatrische Störungen: Polyneuropathie (20% der Alkoholiker entwickeln eine symptomatische Polyneuropathie mit distalen, beinbetonten sensomotorischen Störungen), Wernicke –Enzephalopathie durch chronischen Vitamin B1-Mangel (Bewusstseinsstörungen, Augenmuskelparesen, Ataxie), Korsakow-Syndrom (organisches anamnestisches Syndrom),  Alkoholpsychosen (Eifersuchtswahn, Phobien, Halluzinationen, paranoide Störungen), atrophische Hirnveränderungen, Demenzsyndrom, Kleinhirnrindenatrophie (1% der Alkoholiker), zentrale pontine Myelinolyse (selten), alkholische Myopathie (Alkoholmyopathie). 
  • Leber: alkoholische Fettlebererkrankungen = AFLD (alkoholische Fettleber, alkoholische Fettleberhepatitis, alkoholische mikronoduläre Leberzirrhose)
  • Pankreas: akute Pankreatitis, chronisch kalzefizierende Pankreatitis
  • Karzinombildungen, insbesondere Tumore der Mundhöhle, des Rachens, der Leber und der weiblichen Brust
  • Magen-Darm-Trakt:  Refluxösophagitis, erhöhtes Risiko für Barrett-Ösophagus und Ösophaguskarzinom; akute Gastritis evtl. Magenblutungen durch erosive Gastritis. Mallory-Weiss-Syndrom (Schleimhautrisse im ösophageo-kardialen Übergangsbereich)
  • Erkrankungen von Herz- und Gefäßsystem: Herzrhythmusstörungen – holiday heart syndrome), paroxysmales Herzvergrößerung, arterielle Hypertonie, alkoholtoxische dilatative Kardiomyopathie
  • Koronare Herzerkrankung: bei moderatem Alkoholkonsum Verminderung der Gesamtmortalität; bei höherem Alkholkonsum deutliches Ansteigen der Gesamtmortalität.
  • ZNS: erhöhtes Schlaganfallrisiko bei deutlich erhöhtem Alkoholkonsum (>30g/Tag).
  • Stoffwechsel: Hypertriglyzeridämie; Hyperurikämie, Porphyria cutanea tarda; Folsäuremangel mit konsekutiver hyperchromer Anämie.
  • Endokrine Störungen: Männer: Libidoverlust mit Potenzstörungen (Testostereon ↓), Pseudo-Cushing-Syndrom. Frauen: Oligo- oder Amenorrhö (Östrogen ↓).
  • Immunstörungen: erhöhte Infektanfälligkeit (Pneumonie, Tuberkulose). 

Labor

Gamma-GT↑↑; MVC ↑; CDT (Carboanhydrate Deficient-Transferrin) ↑, im fortgeschrittenen Zustand des chronischen Alkoholismus organbezogene Laborveränderungen, z.B. Zeichen der Leberzirrhose mit Zeichen der Synthesestörung und gfls. Cholestaseparameter.       

Therapie

Grundsätzlich werden 4 Therapiephasen unterschieden. In jeder Phase wird versucht, die Behandlung der individuellen Situation des Betroffenen anzupassen.

  • Kontaktphase: Die Betroffenen nehmen Kontakt zu Beratungsstellen, einer Selbsthilfegruppe oder einem Arzt auf um ausführlich informiert zu werden. Wichtig ist es in dieser Phase, das Trinkverhalten des Abhängigen als Problem zu benennen und den Alkoholerkrankten zu motivieren, selbstverantwortlich an der Lösung mitzuarbeiten.
  • Reduktionsphase: Die Behandlung hat das Ziel die Alkoholmenge zunächst zu reduzieren und später gänzlich auf Alkohol zu verzichten.
  • Entzugsphase: Falls die Trinkmengenreduktion nicht stabil oder aus medizinischen Gründen nicht sinnvoll erreicht werden kann, ist oft eine körperliche Entgiftung notwendig. Steht der Suchtstoff dem Körper nicht mehr zur Verfügung, sind körperliche (zum Beispiel Verwirrtheit, Schwitzen, Blutdruckerhöhung, beschleunigter Herzschlag, leichte Übelkeit, Zittern) und psychische Entzugserscheinungen (zum Beispiel psychomotorische Unruhe, Reizbarkeit, Ängstlichkeit) die Folge. Der Alkoholentzug findet meist unter stationären Bedingungen statt (Gefahr des Eintretens eines lebensbedrohlichen Delirs mit Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma, Halluzinationen, Störungen des Herz-Kreislauf-Systems, die eine sofortige notärztliche Intervention nötig machen können)
  • Entwöhnungsphase: Eine Entwöhnungsbehandlung erfolgt meist über einen Zeitraum von mehreren Wochen bis Monaten (am besteh in einer Fachklinik. Ziel ist es den Betroffenen an einen Alltag ohne Alkohol heranzuführen. Zudem muss der Wunsch des Alkoholikers abstinent zu bleiben, stabil gefestigt wird.
  • Nachsorge- und Adaptationphase: Der Übergang von der oft stationären Entwöhnungsbehandlung zurück in den Alltag kann problematisch sein, da der Alkoholerkrankte mit den zuvor bestehenden Sorgen und Probleme wieder konfrontiert wird.  in dieser Phase wird eine engmaschige ambulante Nachbetreuung angeraten. Ein weiterer wichtiger unterstützender Baustein kann die Hilfe durch Selbsthilfegruppen sein.

Interne Medikation: zugelassen sind in Deutschland Acamprosat, Naltrexon, Nalmefen. Solche Medikamente können Beratung und Therapie jedoch keinesfalls ersetzen, sondern diese lediglich ergänzen.

Verlauf/Prognose

Die Alkoholerkrankung ist eine chronische Krankheit. Sie ist nicht heilbar. Das Risiko für eine Suchtverlagerung auf Medikamente ist zu beachten. Die Erkrankung kann nur durch lebenslange Abstinenz zum Stillstand gebracht werden.

An erster Stelle steht eine Unkenntnis über die vielschichtige Symptomatologie, die durch einen chronischen Alkoholismus hervorgerufen wird. Medizinische Erfahrungen insbesondere der letzten Jahre lassen den Schluss zu, daß es kaum ein internistisches Krankheitsbild gibt, bei dem Alkohol nicht eine potenzielle Rolle als ätiologischer Faktor spielen kann. In der täglichen ärztlichen Praxis werden Alkohol-Folgekrankheiten nach den im wesentlich naturwissenschaftlich fundierten Konzepten der heutigen Medizin gemäß diagnostiziert und behandelt. Die Therapie ist ausgerichtet nach dem aktuellen Leiden; das Suchtverhalten selbst, als wesentlich krankmachender Faktor, ist in der Regel kein Gegenstand allgemeinärztlicher Intervention. Alkoholkranke wirken häufig ängstlich, labil, verantwortungslos, unzuverlässig; reizbar, aggressiv - Eigenschaften, die bei vielen behandelnden Ärzten intuitiv eher eine Abwehrsituation hervorruft. Es kann sich im Gespräch Arzt/Patient oft eine negative, emotionsgeladene Atmosphäre entwickeln, die es selbst dem engagierten Arzt unmöglich macht, eine vertrauensvolle, wirksame Kommunikation aufzubauen. Damit scheitern schon im Frühstadium viele Therapieversuche.

Eine Alkoholsucht verläuft oft in bestimmten Abschnitten mit jeweils charakteristischen und damit objektivierbaren Verhaltensweisen. Obwohl sich die individuellen Formen der Erkrankung oft sehr unterscheiden, gilt folgender Verlauf als charakteristisch:

Zunächst zur persönlichen Bewältigung von Problemen, Steigerung der Frequenz des Alkoholkonsums. Ein täglicher Alkoholkonsum kann die Folge sein. Zu einem Alkoholrausch muss es dabei nicht kommen.

In der nächsten Stufe gewinnt Alkohol zunehmend eine obsessive mentale Bedeutung. Das Thema Trinken, die heimliche Beschaffung von Alkohol, das Verbergen der eigenen Trinkgewohnheiten vor Freunden, Familie und Kollegen beherrscht zunehmend das Denken und die Verhaltensweisen. Hinzu kommt ein fortschreitender Kontrollverlust. Zwanghaft wird auf Alkohol zurückgegriffen. Andere Interessen, Pflichten und soziale Kontakte werden wegen des zwanghaften Alkoholkonsums vernachlässigt. Der Versuch die übliche Konsummenge zu vermindern führt zu Entzugserscheinungen.

Schließlich dominieren Alkoholsucht weitgehend den Tagesablauf sowie dass Verhalten der Betroffenen. Geistige Fähigkeiten wie Kritik- und Urteilsfähigkeit sind merklich reduziert. Nicht selten kommt es zu einem kontinuierlichen sozialen Abstieg.

Hinweis(e)

Ein risikofreier Alkoholkonsum gibt es nicht!  Auch kleine Mengen Alkohol sind schädlich, das Risiko für Folgeerkrankungen steigt jedoch mit zunehmender Konsummenge.

Risikoarmer Alkholkonsum: Frauen: < 12 g /Tag, Männer < 24 g reinem Alkohol. Ein Überschreiten dieser Menge wird das als riskanter Konsum eingestuft. Bei fortgesetztem Konsum steigt das Risiko für schädliche Folgen. Dies gilt für Frauen mit regelmäßigem Konsum > 40 g/Tag Alkohol oder für Männer mit einem Konsum > 60g/Tag.

Hinweis: 1Glas Bier mit 0,33 Liter entspricht etwa 13 g Alkohol. Ein Glas Wein mit etwa 0,2 Liter entspricht ungefähr 16 g. Bei weniger als 2 konsumfreien Tagen pro Woche gilt Alkoholkonsum immer als riskant.

Disclaimer

Bitte fragen Sie Ihren betreuenden Arzt, um eine endgültige und belastbare Diagnose zu erhalten. Diese Webseite kann Ihnen nur einen Anhaltspunkt liefern.

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