Poliomyelitis A80.9

Autoren: Prof. Dr. med. Peter Altmeyer, Prof. Dr. med. Martina Bacharach-Buhles

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Zuletzt aktualisiert am: 24.10.2017

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Synonym(e)

Epidemica anterior acuta; Heine-Medin-Krankheit; Kinderlähmung; Polio

Erstbeschreiber

von Heine, 1838

Definition

Endemo-epidemische Viruserkrankung, ausgelöst durch das Poliomyelitis-Virus, die asymmetrische, schlaffe Lähmungen auslösen kann.

Erreger

  • Poliovirus, Gattung Enterovirus, Familie Picornaviridae.
  • Drei Serotypen: Typ I (Brunhilde), am stärksten lähmungsauslösend und epidemische Ausbreitung; Typ II (Lansing) und Typ III (Leon). Zwischen den drei Erregertypen gibt es keine Kreuzimmunität.
  • Hauptsächlich fäkal-orale Übertragung. Schon kurz nach Infektionsbeginn kommt es zu massiver Virusreproduktion in den Darmepithelien, so dass infektiöse Viren mit dem Stuhl ausgeschieden werden können. Wegen der primären Virusvermehrung in den Rachenepithelien kann das Virus kurz nach Infektion auch aerogen übertragen werden. Schlechte hygienische Verhältnisse begünstigen die Ausbreitung von Poliovirus-Infektionen. Infektionsquellen sind z.B. kontaminiertes Wasser und Lebensmittel (Muscheln).
  • Asymptomatische oder Kranke scheiden das Virus mit dem Stuhl und Tröpfchen (Rachen) aus. Polioviren sind in Rachensekreten frühestens 36 Stunden nach einer Infektion nachweisbar und persistieren dort ca. eine Woche. Die Virusausscheidung im Stuhl beginnt nach 72 Stunden und kann mehrere Wochen dauern.

Vorkommen/Epidemiologie

  • Vorrangig in Entwicklungsländern Afrika und Asiens mit schlechtem hygienischen Status auftretend. In den ersten Lebensjahren infizieren sich bis zu 90% der Menschen in den Endemiegebieten.
  • Periodische Ausbrüche in Endemiegebieten (z.B. 2006 in Namibia).
  • Aufgrund von Impfkampagnen sowie Verbesserung der hygienischen Bedingungen Verschiebung der Erkrankungshäufigkeit ins Erwachsenenalter, z.T. mit schweren klinischen Verläufen.
  • Aufgrund von Impfkampagnen und des Poliomyelitis-Eradikationsprogrammes der WHO sind der gesamte amerikanische Kontinent seit 1994, der westpazifische Raum seit dem Jahr 2000 und Europa seit 2002 poliofrei. Der letzte Poliomyelitis-Fall in Deutschland wurde 1990 registriert.

Klinisches Bild

  • Abortive Fälle (5-10% der Fälle): Inkubationszeit: 6-9 Tage. Es zeigt sich eine unspezifische grippeähnliche Symptomatik mit Fieber, Übelkeit, Halsschmerzen, Lymphadenopathie, Myalgien und Kopfschmerzen. Weiterhin Symptome der oberen Luftwege (Katarrh, nichteitrige Bronchitis) oder Gastroenteritis mit Diarrhoen.
  • Nichtparalytische Poliomyelitis (1-2%): 3-7 Tage nach der abortiven Poliomyelitis zeigen sich Fieber, Nackensteifigkeit, Rückenschmerzen und Muskelspasmen bis hin zur aseptischen Meningitis. Vollständige Abheilung. Selten treten Virusexantheme auf.
  • Paralytischer Verlauf oder Polioenzephalitis (0,1-2%): Nach einem oder mehreren Tagen zeigen sich Meningismus, asymmetrische schlaffe Lähmungen oder Paresen innerhalb von 24-48 Std. Spinale, bulbäre oder bulbo-spinale Betonung (Bulbärparalyse; major illness). Partielle und vollständige Rekonvaleszenz ist möglich. Tödliche Verläufe bei Bulbärparalysen sind häufig.
  • Mitunter verläuft die Erkrankung biphasisch. Zunächst bessern sich die Symptome der aseptischen Meningitis, jedoch kommt es nach 2-3 Tagen zu einem Fieberanstieg und Auftreten von Paralysen. Dieser biphasische und rasche Verlauf der Erkrankung ist bei Kindern häufiger als bei Erwachsenen. Die motorische Schwäche tritt üblicherweise asymmetrisch auf und kann Bein- (am häufigsten), Arm-, Bauch-, Thorax- oder Augenmuskeln betreffen. Die bulbäre Form tritt seltener auf und hat wegen der Schädigung von zerebralen bzw. vegetativen Nervenzentren eine schlechte Prognose.
  • Post-Polio-Syndrom: Teilweise erst Jahre oder Jahrzehnte nach der Infektion als Spätfolge auftretend. Symptome: extreme Müdigkeit, Muskelschmerzen und Muskelschwund in neuen und schon früher betroffenen Muskeln sowie Atem- und Schluckbeschwerden.

Diagnose

  • Virusanzucht aus dem Stuhl, aus Rachenspülwasser und aus Liquor.
  • Molekularbiologischer Nachweis von RNA mittels PCR.
  • Serumantikörpernachweis mittels ELISA.

Differentialdiagnose

  • Meningitis anderer Genese, vorwiegend verursacht durch Erreger der Gruppe der Enteroviren wie Coxsackie- und Echoviren sowie die Frühsommermeningoenzephalitis.
  • Bei bulbärer Verlaufsform: Diphtherie.
  • Guillain-Barré-Syndrom, im Gegensatz zur Poliomyelitis durch symmetrische von den Füßen immer weiter aufsteigende Lähmungen gekennzeichnet.

Therapie

Symptomatisch. Krankengymnastik. Antiphlogistika.

Prophylaxe

  • Hygiene, insbes. Wasseraufbereitung.
  • Polioimpfung mit inaktivierter Polio-Vakzine (IPV; Totimpfstoff Salk gegen Typ I-III). Dieser Impfstoff ist sicher wirksam und zieht keine Vakzine-assoziierte paralytische Poliomyelitis (VAPP) nach sich. Auch Personen mit Immunschwäche können deshalb risikolos mit IPV geimpft werden.(Totimpfstoff Salk gegen Typ I-III). Der orale Lebenimpfstoff nach Sabin wird aufgrund der Nebenwirkungen (Impfpoliomyelitis) nicht mehr empfohlen.
  • In Einzelfällen ist das Auftreten einer Acrodermatitis papulosa eruptiva infantilis nach Polio-Impfung beschrieben.

Hinweis(e)

Merke! Dem Gesundheitsamt wird gemäß § 6 IfSG der Krankheitsverdacht, die Erkrankung sowie der Tod an Poliomyelitis (als Verdacht gilt jede akute schlaffe Lähmung einer Extremität, außer wenn traumatisch bedingt), sowie gemäß § 7 der direkte oder indirekte Nachweis von Poliovirus, soweit er auf eine akute Infektion hinweist, namentlich gemeldet.

Literatur
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  1. Reynolds T (2007) Polio: an end in sight? BMJ 27: 852-854
  2. Thompson KM, Tebbens RJ (2007) Eradication versus control for poliomyelitis: an economic analysis. Lancet 21: 1363-1371

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Zuletzt aktualisiert am: 24.10.2017