HIV-Infektion, Postexpositionsprophylaxe

Autoren: Prof. Dr. med. Peter Altmeyer, Prof. Dr. med. Martina Bacharach-Buhles

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Zuletzt aktualisiert am: 24.10.2017

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Synonym(e)

Nadelstichverletzungen; PEP

Definition

Empfohlenes Vorgehen nach Schnitt- oder Stichverletzungen durch HIV-kontaminiertes Material bzw. ungeschütztem sexuellem Kontakt mit HIV-Infizierten. S.a.u. HIV-Infektion. Die Wirksamkeit der PEP ist maßgeblich vom Zeitraum zwischen Exposition bis zum Beginn und der Dauer der Medikamentengabe und auch von der Auswahl der Medikamente abhängig. Zumindest ein Teil der Wirksamkeit der PEP beruht auf einer durch die Medikamente geschützten Entwicklung einer kompetenten zellulären Immunantwort.

Allgemeine Information

  • Merke! Das durchschnittliche Risiko einer HIV-Infektion nach perkutaner Exposition mit Blut von HIV-Infizierten liegt nach den bisher vorliegenden Daten bei etwa 0,3%; d.h. im Mittel führt eine von 330 Expositionen zu einer HIV-Infektion. Das durchschnittliche Infektionsrisiko bei Schleimhautexposition und bei Exposition entzündlich veränderter Hautpartien liegt hingegen um 0,03% (eine HIV-Infektion bei 3300 Expositionen). In allen Fällen werden auch hier individuelle Unterschiede durch die infektiöse Blutmenge, die Viruskonzentration und die Expositionsdauer bestimmt.

  • Merke! Eine HIV-PEP sollte so früh wie möglich nach einer Exposition begonnen werden, die besten Ergebnisse sind bei einem Prophylaxebeginn innerhalb von 24 Stunden, besser noch innerhalb von 2 Stunden zu erwarten. Liegen bereits mehr als 72 Stunden zwischen der Exposition und dem möglichen Prophylaxebeginn, so kann nach derzeitigem Kenntnisstand eine Prophylaxe nicht mehr empfohlen werden (Ausnahmen siehe oben). Alternativ kann ein HIV-Monitoring (HIV-Antikörpertests z.B. 6 und 12 Wochen nach der Exposition, bei klinischer Symptomatik ggf. HIV-PCR) angeboten und ggf. eine frühzeitige Therapie bei Nachweis einer Virämie in Erwägung gezogen werden.

  • Von einer HIV-Exposition wird nach geltendem Kenntnisstand ausgegangen bei:
    • Verletzung mit HIV-kontaminierten Instrumenten bzw. Injektionsbestecken
    • Benetzung offener Wunden und Schleimhäute mit HIV-kontaminierten Flüssigkeiten
    • ungeschütztem Geschlechtsverkehr mit einer HIV-infizierten Person
    • Gebrauch von HIV-kontaminiertem Injektionsbesteck und
    • Transfusion von HIV-kontaminiertem Blut oder Blutprodukten.
  • Vermutlich sind Verletzungen an Hohlraumnadeln gefährlicher als an chirurgischen Nadeln. An eine Infektionsübertragung muss auch nach kriminellen Angriffen mit möglicherweise infektiösen Waffen oder Gegenständen (Stichwerkzeuge, etc.) sowie bei Verletzungen mehrerer Beteiligter gedacht werden.
  • Berufliche HIV-Übertragungen sind bisher nur durch Blut oder Viruskonzentrat (Viruskultur) erfolgt, insbes. bei:
    • Stich- und Schnittverletzungen
    • Kontakt infektiöser Materialien mit einer offenen Wunde oder nicht-intakter (geschädigter) Haut des Exponierten
    • Schleimhautexposition (inklusive Blutspritzern ins Auge).

Hinweis(e)

Folgende Maßnahmen tragen zum Schutz vor Kontamination bei:
  • Kein Zurückstecken (recapping) von Schutzkappen auf benutzte Kanülen!
  • geordnete, durchdachte und konzentrierte Arbeitsweise bei verletzungsträchtigen Tätigkeiten.
  • Verwendung von Sicherheitskanülen (Blunt-Needles) bei Blutentnahmen und Verweilkanülen.
  • Verwendung bruch- und durchstichsicherer Entsorgungsbehälter für gebrauchte Kanülen und andere Einmalmaterialien am Ort des Umgangs bzw. Mitnahme der Behälter bei jedem entsprechenden Eingriff (Überfüllung vermeiden!).
  • Anlegen von Schutzhandschuhen vor möglichem Kontakt mit infektiösem Material wie Blut, Speichel u.a. (gilt auch für Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen einschließlich Instrumentenaufbereitung).
  • Benutzung einer ggf. auch seitlich geschlossenen Schutzbrille bei Gefahr von Spritzern infektiösen Materials ins Auge (z.B. bei Bronchoskopie, Intubation, transurethraler Katheterisierung, Entbindung, zahnärztlicher Behandlung, Arbeiten mit Plasma / Serum / Liquor).
  • Medizinisches Personal sollte gegen HBV geimpft sein. Die HBV-Schutzimpfung muss bei Einstellungs- und arbeitsmedizinischer Vorsorgeuntersuchung jedem Mitarbeiter mit Infektionsgefährdung kostenlos angeboten werden. Gleiches gilt für nichtmedizinisches Personal, auch von Fremdfirmen, das in infektionsgefährdeten Arbeitsbereichen etwa Reinigungs- und Entsorgungsdienste leistet.

Tabellen

Zur Einschätzung des konkreten Infektionsrisikos nach HIV-Exposition und zur Abklärung einer möglichen Medikamentenresistenz von HIV sollten folgende Fragen beantwortet werden:

  • Wann hat der mögliche Kontakt mit HIV stattgefunden?

  • Von welcher Indexperson stammt das Material?

  • Wie wurde HIV möglicherweise übertragen ? (z.B. durch Hohlraumkanülen? durch Schleimhautkontakte?)

  • Wie tief sind vorliegende Verletzungen (immer erst nach Blutungsinduktion und Antiseptik)? Wurden Blutgefäße eröffnet?

  • Trägt das verletzende Instrument Spuren der Kontamination mit Blut?

  • Ist die Indexperson nachweislich infiziert bzw. wie wahrscheinlich ist eine HIV-Infektion?

  • In welchem Stadium der HIV-Erkrankung (klinische Manifestation, CD4-Zellzahl) befindet sich die Indexperson?

  • Wie hoch ist aktuell die Virämie der Indexperson gemessen an den HIV-RNA-Kopien/ml?

  • Wird die Indexperson mit antiretroviralen Medikamenten behandelt? Wenn ja mit welchen Medikamenten über welchen Zeitraum?

  • Sind Resistenzen bekannt?

  • Welche anderen Maßnahmen wurden bisher ergriffen?


Exposition

PEP-Empfehlung

Perkutane Verletzung mit Injektionsnadel oder anderer Hohlraumnadel (Körperflüssigkeit mit hoher Viruskonzentration: Blut, Liquor, Punktatmaterial, Organmaterial, Viruskulturmaterial)

PEP empfehlen

Tiefe Verletzung (meist Schnittverletzung), sichtbares Blut

PEP dringend empfehlen

Nadel nach intravenöser Injektion

PEP dringend empfehlen

Oberflächliche Verletzung (z. B. mit chirurgischer Nadel)

PEP anbieten

ggf. Ausnahme, falls Indexpatient AIDS oder eine hohe HI-Viruskonzentration hat

PEP empfehlen

Kontakt von Schleimhaut oder verletzter/geschädigter Haut mit Flüssigkeiten hoher Viruskonzentration

PEP anbieten

Perkutaner Kontakt mit anderen Körperflüssigkeiten als Blut (wie Urin oder Speichel)

PEP nicht empfehlen

Kontakt von intakter Haut mit Blut (auch bei hoher Viruskonzentration)

PEP nicht empfehlen

Haut- oder Schleimhautkontakt mit Körperflüssigkeiten wie Urin und Speichel

PEP nicht empfehlen


Exposition

PEP-Empfehlung

Transfusion von HIV-haltigen Blutkonserven oder Erhalt von mit hoher Wahrscheinlichkeit HIV-haltigen Blutprodukten oder Organen

PEP dringend empfehlen

Ungeschützter insertiver oder rezeptiver vaginaler oder analer Geschlechtsverkehr (z.B. infolge eines geplatzten Kondoms) mit einer HIV-infizierten Person

PEP empfehlen, außer wenn Indexperson unter stabiler HAART (VL< 50 Kopien seit mind. 6 Monaten)

Nutzung HIV-kontaminierten Injektionsbestecks durch mehrere Drogengebrauchende gemeinsam oder nacheinander

PEP dringend empfehlen

ungeschützter oraler Geschlechtsverkehr mit der Aufnahme von Sperma des HIV-infizierten Partners in den Mund

PEP nur bei Vorliegen zusätzlicher Risikofaktoren anbieten - z.B. Ulzera, Verletzungen im Mund

Küssen und andere Sexualpraktiken ohne Sperma-/Blut-Schleimhautkontakte sowie S/M-Praktiken ohne Blut-zu-Blut-Kontakte

PEP nicht empfehlen

Verletzung an gebrauchtem Spritzenbesteck zur Injektion von Drogen, Medikamenten oder Insulin

PEP nicht empfehlen


Kombinationspartner →

Ritonavir (Kaletra: 2mal 400/100 mg)

Zidovudin (Retrovir: 2mal 250 mg)

Tenofovir (Viread: 1mal 300 mg)

Efavirenz* (Sustiva/ Stocrin: 1mal 600 mg)

RTI ↓

Tenofovir + Emtricitabin (Truvada: 1mal 300/200 mg)

wahrscheinlicher Vorteil: rascher Wirkungseintritt

möglich

nicht sinnvoll

möglich

Zidovudin + Lamivudin (Combivir: 2mal 300/150 mg)

möglich

nicht sinnvoll

möglich

möglich

Behandlungsdauer: Die Prophylaxe sollte vier Wochen lang durchgeführt werden. Längere Behandlungszeiträume können in Erwägung gezogen werden, wenn es zu einer massiven Kontamination gekommen ist und/oder der Zeitraum zwischen Exposition und Prophylaxebeginn länger als 36-48 Stunden ist (Expertenkonsultation!)

  • Prophylaxemodifikation: Eine Modifikation dieser Prophylaxe-Schemata sollte immer dann in Erwägung gezogen werden, wenn die Index-Person antiretroviral vorbehandelt ist bzw. unter antiretroviraler Behandlung eine nachweisbare Viruslast aufweist. Als allgemeine Richtlinien für die Modifikation gelten die Regeln der sequentiellen Kombinationstherapie der HIV?Infektion:

    • wenn möglich Einsatz von mindestens zwei Medikamenten, mit denen der Index?Patient bisher nicht behandelt wurde

    • Beachtung bekannter Kreuzresistenzen

    • bei Indexpatienten mit NNRTI?Vorbehandlung und virologischem Versagen sowie bei mit Pro¬teasehemmern vorbehandelten Patienten mit virologischem Versagen sollte bevorzugt ein geboosteter Proteasehemmer (z.B. Lopinavir in Fixkombination mit Ritonavir [Kaletra]) zum Einsatz kommen.

    • Bei Indexpatienten mit bekanntermaßen multiresistentem Virus kann auch der Einsatz neuerer Medikamente wie Darunavir (Prezista) und Enfurvitid (Fuzeon) zur Postexpositionsprophylaxe erwogen werden.

  • Die im Einzelfall zu verabreichende Kombination sollte sich dann zusätzlich an dem aktuellen Stand von Therapie-Empfehlungen orientieren, wie sie mit Erkenntnissen über Neben- und Wechselwirkungen oder über evtl. zu erwartende Spätfolgen z.B. in den deutsch-österreichischen Konsensus-Empfehlungen zur antiretroviralen Therapie zusammengefasst sind. In diesen Fällen sollte die HIV-PEP in Zusammenarbeit mit einem Schwerpunktzentrum für HIV-Therapie bzw. einem in der HIV-Therapie erfahrenen Arzt erfolgen. Bei Unsicherheit bezüglich der Medikamentenkombination sollte aber jede HIV-PEP zunächst mit einer Standard-Prophylaxe begonnen werden!

  • Zeitverlust bewirkt eine verminderte Schutzwirkung der PEP! Wenn die vorgeschlagenen Medikamente nicht sofort erhältlich sind, kann auf andere, erprobte und sofort verfügbare Medikamente ausgewichen werden, z.B. Stavudin statt Tenofovir oder Zidovudin, Didanosin statt Emtricitabin oder Lamivudin (aber keine Kombination Zidovudin + Stavudin oder Didanosin + Stavudin, Nelfinavir (ungeboostet), Indinavir (geboostet oder ungeboostet) oder Saquinavir (nur geboostet) statt Lopinavir/ritonavir.


Standard-Medikamente

Alternative Medikamente

Tenofovir, Zidovudin

Stavudin (Zerit: 2mal 40 mg)*

Emtricitabin, Lamivudin

Didanosin (Videx: 1mal 400 mg)*

Lopinavir/Ritonavir

Nelfinavir**, Indinavir**,Saquinavir (Invirase:, 2mal 1000 mg + 2mal 100 mg Ritonavir), Fosamprenavir (Telzir: 2mal 700 mg + 2mal 100 mg Ritonavir)

Behandlungsdauer: Die Prophylaxe sollte vier Wochen lang durchgeführt werden. Längere Behandlungszeiträume können in Erwägung gezogen werden, wenn es zu einer massiven Kontamination gekommen ist und/oder der Zeitraum zwischen Exposition und Prophylaxebeginn länger als 36-48 Stunden ist (Expertenkonsultation!)


  • Aktuelle Erkenntnisse über prä- und klinische Daten zu den antiretroviralen Substanzen bei Schwangerschaft sind jeweils neu einzuholen und zu überprüfen. Derzeit kann keine Substanz als völlig unbedenklich zur Behandlung wie zur Prophylaxe eingestuft werden. Da mit Zidovudin und mit Lamivudin bislang die umfangreichsten klinischen Erfahrungen bestehen, sollte die Standard-PEP bei einer Schwangeren diese Medikamente enthalten, z.B. in Form einer Kombination aus:

    • Zidovudin + Lamivudin + Lopinavir/rit (Combivir 2mal/Tag 300/150 mg + Kaletra 2mal/Tag 400/100 mg).

  • Soweit untersucht, können bei Einnahme alle antiretroviralen Medikamente in relevantem Umfang auch in der Muttermilch nachgewiesen werden. Bei postexpositioneller Kombinationstherapie in der Stillperiode ist deshalb zumindest für den betroffenen Zeitraum eine Stillpause oder ein Abstillen zu empfehlen.

Verweisende Artikel (3)

HIV-Infektion; Nadelstichverletzungen; PEP;

Weiterführende Artikel (1)

HIV-Infektion;
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