Anaphylaktischer Schock T78.2

Autoren: Prof. Dr. med. Peter Altmeyer, Prof. Dr. med. Martina Bacharach-Buhles, Dr. med. Lydia König, Dr. med. S. Leah Schröder-Bergmann

Co-Autor: Hadrian Tran

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Zuletzt aktualisiert am: 22.10.2022

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Synonym(e)

Allergieschock; Anaphylaktische Reaktion; Anaphylaktischer Schock; Anaphylaxis; Notfallbehandlung; Reaktion anaphylaktische; Schock anaphylaktischer

Erstbeschreiber

Portier und Richet, 1902

Definition

Maximalform einer immunologischen Typ I-Reaktion (s.a. Tryptase) oder einer pseudoallergisch bedingten, akuten Allgemeinreaktion mit Freisetzung von vasoaktiven Substanzen (vasodilatativ) und Entzündungsmediatoren, Erhöhung der Gefäßpermeabilität (Flüssigkeitsextravasation) und generalisierter Vasodilatation mit konsekutivem Schock. Fakultativ Bronchokonstriktion, Exanthem, Angioödem (s.u. Anaphylaxie).

Ätiopathogenese

Die häufigsten Auslöser eines anaphylaktischen Schocks sind:

Summationsanaphylaxie: Nicht selten werden anaphylaktische Reaktionen erst nach gleichzeitiger Präsenz von einem oder mehreren Ko-Faktoren symptomatisch (s.a. Nahrungsmittelallergie). Diese Kombinationen sind besonders schwierig zu diagnostizieren, da nur ihr Zusammenspiel die Anaphylaxie auslöst.

Klinisches Bild

Einteilung von Stadium 0 - IV, s. Tabelle 1. Neben den in
Tab.1 aufgeführten Symptomen können, wenn auch seltener, eine reflektorische Bradykardie (Bezold-Jarisch-Reflex) oder eine Hypertonie auftreten. Erste Anzeichen sind:

  • Juckreiz an den Handflächen/Fußsohlen oder Genitalien
  • metallischer Geschmack
  • Prickeln im Mund-und Rachenraum
  • Hitzegefühl bzw. -wallung
  • Unruhe
  • Rötung größerer Hautareale.

Eine biphasische Schockreaktion ( kann in etw 2% der Patienten erwartet werden). Zweiphasische Reaktionen werden 1bis max. 36 Stunden nach dem Erstereignis beobachtet.

Diagnose

Die Bestimmung der Serumtryptase ist ein hilfreicher Marker, um eine allergische Reaktion von einer nicht-allergischen zu unterscheiden. Erhöhte Spiegel von Tryptase nach einem anaphylaktischen Ereignis können normalerweise noch 3 bis 6 Stunden nach der Reaktion nachgewiesen werden. Die Spiegel normalisieren sich innerhalb von 12 bis 14 Stunden.

Differentialdiagnose

Differenzialdiagnose des anaphylaktischen Schocks (var. n. Ludolph-Hauser et al.):

  • Kardiovaskuläre Erkrankungen:
    • Vagovagale Synkopen
    • Non-anaphylaktischer Schock (z.B. kardiogen)
    • Hypertone Krise
    • Capillary-Leak-Syndrom
    • Neuropsychiatrische Erkrankungen
    • Hyperventilationstetanie
    • Panikattacke
    • Globus hystericus
    • Epilepsie
    • Apoplex
  • Atemwegserkrankungen:
    • Asthma ohne Zusammenhang mit Anaphylaxie
    • Tracheale/bronchiale Obstruktion
  • Intoxikationen
  • Pathologische Mediatorfreisetzung:
  • Urtikariaerkrankungen
  • Angioödem (hereditär/erworben).

Therapie

Spätestens ab Stadium II intensivmedizinische Betreuung.

Therapie allgemein

Venöser, möglichst großlumiger Zugang; Sauerstoff-Gabe, Atemwege freihalten, Blutdruckkontrolle. Wird der Schock durch lokale Injektionen oder Stiche an den Extremitäten ausgelöst, kann das vorübergehende Abbinden der jeweiligen Extremität die Reaktion abmildern.

Ablauf:

  • SOFORT: Allergenzufuhr stoppen! 
  • Beruhigung von Patient (und Eltern) 
  • Lagerung symptomorientiert: Flachlagerung ist präferiert. 
  • Bei Bewusstlosigkeit: stabile Seitenlage
  • Bei hämodynamischer Instabilität: Trendelenburg-Lagerung (Beine hoch)
  • Bei Atemnot: sitzende oder halbsitzende Position
  • Beurteilung des Schweregrades: Erkennen und Behandeln des bedrohlichsten Symptoms
  • Gesicherten Zugang schaffen 
  • Bei Atem- oder Kreislaufbeschwerden sollten schon vorher Adrenalin i.m. und Sauerstoff inh. gegeben werden!
  • Bei Herz-Kreislauf-Reaktion bzw. -Stillstand evtl. intraossärer Zugang

Interne Therapie

Adrenalin: Sobald Symptome wie Stridor, Hypotension, Dyspnoe vorliegen sollten 0,01mg/kgKG i.m. injiziert werden (s.unten). 

Ab Stadium III oder bei akuter Atemnot Adrenalin z.B. Suprarenin 1:1000 (1 ml enthält 1 mg Adrenalin = Epinephrin) 0,3-0,5 ml langsam i.v., bei Larynx- bzw. Glottisödem und akuter Atemnot eine Gesamtdosis bis zu 1 ml injizieren.  

In hochakuten Fällen werden nach Verdünnen von 1 ml der handelsüblichen Epinephrin-Lösung (1:1000) auf 10 ml oder unter Verwendung einer Epinephrin-Fertigspritze (z.B. Anapen 300 µg, Anapen 150 µg, Fastjekt) zunächst 0,5-1,0 ml (= 0,05-0,1 mg Epinephrin) unter Puls- und Blutdruckkontrolle langsam i.v. injiziert (0,1 mg/Min.); eine Maximaldosis von 1 mg Adrenalin sollte i.d.R. nicht überschritten werden.

Autoinjektor zur intramuskulären Injektion, gewichtsadaptiert.

  •  >7,5-15kg: 150µg Adrenalin
  • >25-30kg: 300µg Adrenalin
  • >50kg: 300µg 0der 500µg Adrenalin

Merke! Bei unzureichender hämodynamischer Stabilisierung durch Volumengabe und Adrenalin ggf. Gabe von Vasopressoren wie Noradrenalin oder Dopamin 35 µg/kg/Min (= 2,5 mg/Min/70 kg KG).

Volumensubstitution: I.v.-Gabe von Elektrolytlösungen im Stadium I bis II, ab Stadium III Plasmaersatzmittel wie Ringerlösung, in Ausnahmefällen Gelatinepräparate, niedrigmolekulare Dextran- und Hydroxyethylstärke-Lösungen.

Cave! Dextrane dürfen wegen des Risikos der Existenz präformierter Antikörper gegen Dextrane erst nach Vorbehandlung mit niedermolekularem Dextranhapten gegeben werden.

Antihistaminika: Ab Stadium I bis II Clemastin (z.B. Tavegil) oder Dimetinden (z.B. Fenistil) 1-2 Amp. i.v.

Theophyllin (z.B. Euphyllin): Zur Bronchialerweiterung ab Stadium III 0,12-0,24 g i.v.

Glukokortikoide: Ab Stadium II gleichzeitig hoch dosiert Glukokortikoide wie Methylprednisolon (z.B. Urbason) 500-1000 mg i.v.; die Dosis kann nach Bedarf wiederholt werden.

β 2 -Sympathomimetika: Bei obstruktiven Atembeschwerden ergänzende Injektion eines β-Sympathomimetikums wie Terbutalinsulfat (z.B. Bricanyl) 0,5-1 Amp. à 0,5 mg s.c., bis zu max. 2 mg/Tag.

Dosierungsempfehlungen bei Kindern:

  • Adrenalin 0,005-0,01 mg/kg KG als Bolus; 0,05-0,5 µg/kg/Min. als Dauerinfusion (endotracheal 2-3fach höher).
  • Dopamin 1,5-2,5 µg/kg/Min. als Dauerinfusion.
  • Noradrenalin 0,05-1,0 µg/kg/Min. als Dauerinfusion.
  • H1 Antagonisten, z.B. Fenistil 0,1-0,5 mg/kg KG i.v. oder Tavegil 0,025-0,05 mg/kg KG i.v.
  • H2-Antagonisten, z.B. Tagamet 2,5-5,0 mg/kg KG i.v.
  • Kristalloide Lösungen, z.B. Ringer-Laktat 20-30 ml/kg KG (Wiederholung evtl. alle 20-30 Minuten).
  • Kolloide, z.B. HES 10-20 ml/kg KG.
  • Prednisolon 2-5 mg/kg KG i.v. (max. 20 mg/kg KG).
  • Theophyllin 5 mg/kg KG als langsamer Bolus; 0,5-1,0 mg/kg KG/Std. als Dauerinfusion.

Prophylaxe

Rezeptur und praktische Einweisung zur Handhabung eines Notfallsets, inbes. der Adrenalin Autoinjektoren (Jext®, Fastjekt®, Emerade® 150ug ab 15 kg, 300ug ab 30kg, 500ug ab 60kg).

Tabellen

Stadieneinteilung und Symptomatik anaphylaktischer Sofortreaktionen

Stadium

Ausbreitung

Symptomatik

0

lokal

lokal begrenzte kutane Reaktion

I

leichte Allgemeinreaktion

disseminierte kutane Reaktionen (z.B. Flushphänomen, Urtikaria, Pruritus), Schleimhautreaktionen (z.B. Nase, Konjunktiven), Allgemeinreaktionen (z.B. Unruhe, Kopfschmerz)

II

ausgeprägte Allgemeinreaktion

Kreislaufdysregulation (Blutdruck-, Pulsveränderung), Atemnot (leichte Dyspnoe, beginnender Bronchospasmus), Stuhl- bzw. Urinabgang

III

bedrohliche Allgemeinreaktion

Schock (schwere Hypotension, Blässe), Bronchospasmus mit bedrohlicher Dyspnoe, Bewusstseinseintrübung, -verlust; ggf. mit Stuhl- und Urinabgang

IV

vitales Organversagen

Manifestes Versagen der Vitalfunktionen (Atem-, Kreislaufstillstand)


Stadium 0

Beobachtung

lokal Kühlen, ggf. lokale Antihistaminika (z.B. Fenistil Gel)

Stadium I

venöser, möglichst großlumiger Zugang

ggf. Antihistaminika i.v. (z.B. Fenistil)

Stadium II

wie oben, zudem

  • Atemwege freihalten, Sauerstoffgabe

  • Volumensubstitution i.v. (Elektrolytlösungen oder Plasmaexpander)

  • interne Medikation:

  • Glukokortikoide i.v. (z.B. Urbason) 500-1000 mg

  • Antihistaminika i.v. (z.B. Fenistil) 1-2 Amp. i.v.

  • β-Sympathomimetika (z.B. Bricanyl) 0,5 mg s.c. (bis max. 2 mg/Tag)

Stadium III + IV

wie oben, zudem

  • Volumensubstitution mit Plasmaexpandern

  • Theophyllin 0,12-0,24 g i.v.

  • Adrenalin 0,3-0,5 ml (bis 1 ml) i.v.

  • bei Kreislaufstillstand Intubation und kardio-pulmonale Reanimation

Nachsorge

Die Betroffenen werden mit einem Anaphylaxiepass ausgestattet (Bezugsquelle: z.B. www.pina-infoline.de).

Fallbericht(e)

  • Fall 1) Ein 17-jähriger Patient, bei dem bei einer unkomplizierten, geplanten Knie-Operation eine Intubationsnarkose eingeleitet wurde, erlitt während der Einleitungsphase einen anaphylaktischen Schock. Ihm wurden während der Narkose folgende Medikamente verabreicht: Thiopental, Propofol, Remifentanil, Suxamethonium; weiterhin erhielt er Amoxicillin und Clexane. Die geplante Operation wurde daraufhin verschoben.
  • Labor: Gesamt-IgE (20,5 kU/l); Tryptase (4,57µg/l); Bemerkung: Normalwerte.Der Basophilendegranulationstest mit 5 unterschiedlichen Konzentrationen von Thiopental erbrachte eine positive Reaktion bei 250 µg/ml.
  • Allergologische Diagnostik: Pricktest: positive Reaktion auf Thiopental. Alle weiteren Hauttestungen (Prick- und Intrakutan-Testungen) auf die o.g. weiteren Medikamente sowie versch. Latexextrakte und Soja erbrachten keine positiven Reaktionen.
  • Diagnose: Anaphylaktischer Schock auf das Narkosemittel Thiopental.

 

 

  • Fall 2) Bei einem 62-jährigen Patienten kam es bei einer Zystoskopie plötzlich zu einer Flush-Symptomatik, einem generalisierten urtikariellen Exanthem und plötzlicher Bewusstlosigkeit mit Blutdruckabfall (Schockstadium III).
  • Bei dem zystoskopischen Eingriff wurde ein Gleitmittel verwendet, das u.a. Lidocain und Chlorhexidin enthielt. Weiterhin erhielt der Pat. bereits unmittelbar vor dem Eingriff 200 mg Ciprofloxacin p.o.
  • Labor: Gesamt-IgE (25,5 kU/l); Tryptase (4,20µg/l); Bemerkung: Normalwerte.
  • Allergologische Diagnostik: Prick-, Intrakutan- und Epikutantestungen mit Lokalanästhetika - und Antibiotika, Chlorhexidindigluconat, Chlorhexidinacetat und versch.Latexextrakten (Latex wurde auch konjunktival provoziert). Orale Provokationstestung mit Ciprofloxacin. Subkutane Provokationstestung mit Lidocain.
  • Ergebnisse: In der Prick-Testung zeigte der Patient eine positive Reaktion auf Ciprofloxacin und Chlorhexidindigluconat. In der Epikutantestung zeigte sich bei Chlorhexidin eine Sofortreaktion.
  • Diagnose: Anaphylaktischer Schock auf das Desinfektionsmittel Chlorhexidin.

Literatur
Für Zugriff auf PubMed Studien mit nur einem Klick empfehlen wir Kopernio Kopernio

  1. Dybendal T et al. (2003) Screening for mast cell tryptase and serum IgE antibodies in 18 patients with anaphylactic shock during general anaesthesia. Acta Anaesthesiol Scand 47: 1211-1218
  2. Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie (DGAI) und Ärzteverband Deutscher Allergologen e.V. (ÄDA). Empfehlungen zur praktischen Durchführung der spezifischen Immuntherapie mit Allergenen (Hyposensibilisierung). AWMF-Leitlinien-Register Nr. 061/013
  3. Leibl M et al. (2011) Anaphylaxie nach versteckter Chlorhexidine-Exposition. Abstract-CD 46. DDG-Tagung: P02/25
  4. Pfeffer I et al. (2011) Acetylsalicylsäure - abhängige Anaphylaxie auf Karotte bei Mastozytose. JDDG 9: 230-231
  5. Portier P, Richet C (1902) De l'action anaphylactique de certains venins. C R Soc Biol (Paris) 54: 170-172
  6. Rohacek M et al.(2014) Biphasic anaphylactic reactions: occurrence and mortality.
    Allergy 69:791-797
  7. Simon J (2014) Der allergologische Notfall. JDDG 12: 379-388
  8. Stratmann E (2011) Anaphylaktischer Schock auf Thiopental. Abstract-CD 46. DDG-Tagung: P02/24.

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